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"Die Neue Zeit": Von Meistern und Studentinnen

Foto: Privatarchiv Familie Heise

Bauhaus-Serie "Die Neue Zeit" Wenn Omas Leben zum TV-Event wird

Die ZDF-Serie "Die Neue Zeit" erzählt von einer jungen Frau, die tatsächlich am Bauhaus studierte. Nicht alles stimmt an der Darstellung. Aber muss sich Geschichts-TV überhaupt an die Fakten halten?

"Hauptsache keine Nazischergin." Was die Darstellung seiner Großmutter im deutschen Fernsehen betrifft, macht sich Philip Heise keine Illusionen. "Wenn man sich die TV-Landschaft anguckt, was da für ein Müll läuft, muss man vom geringsten Niveau ausgehen. Da bei meiner Großmutter die Namensrechte verwirkt sind, können Film und Fernsehen mit einer historisch realen Person wie ihr letztlich machen, was sie wollen", sagt der 49-jährige Hamburger.

Seine Großmutter, das ist die Malerin und Illustratorin Dorothea, genannt Dörte, Helm. 1919 schrieb sie sich als Studentin am Bauhaus in Weimar ein. Später war sie als Gesellin an berühmten Projekten wie dem Haus Sommerfeld beteiligt. Als die Kunsthochschule unter dem Druck reaktionärer Kräfte 1924 nach Dessau umsiedelte, zog Helm jedoch nicht mit. Sie kehrte zunächst zu ihrer Familie nach Rostock zurück, 1932 folgte sie ihrem Ehemann Heinrich Heise nach Hamburg. Dort starb sie 1941, im Alter von 42 Jahren, an den Folgen einer verschleppten Erkältung.

Unter den im Vergleich zu Männern wie Walter Gropius, Marcel Breuer oder Josef Albers weitgehend unbekannten Bauhaus-Frauen gehört Helm zu den nochmals unbekannteren. Eine Postkarte, die sie als Werbung für die Bauhaus-Ausstellung 1923 schuf, ist ihre wohl berühmteste Arbeit.

Von Dörte Helm gestaltete Postkarte zur Bauhaus-Ausstellung 1923

Von Dörte Helm gestaltete Postkarte zur Bauhaus-Ausstellung 1923

Foto: Privatarchiv Familie Heise

Trotzdem ist sie im Bauhaus-Jubiläumsjahr zwei Mal in großen Fernsehproduktionen zu sehen: Im Februar hatte sie einen kleineren Auftritt im ARD-Film "Lotte am Bauhaus", ab Donnerstag ist sie als Hauptfigur in der sechsteiligen Serie "Die Neue Zeit" zu sehen, erst auf Arte, dann im ZDF, zusätzlich auch in den Mediatheken.

Im ARD-Film war Dörte Helm eine rotgelockte Verführerin, die sich am Bauhaus in Dessau vergnügte, in der Arte/ZDF-Serie hat sie blonde Locken und lässt sich zu einer Affäre mit Bauhaus-Leiter Walter Gropius hinreißen. Die echte Dörte Helm trug ihre dunklen Haare während ihrer Weimarer Zeit als Bubikopf. Sie war niemals in Dessau, eine Affäre mit Gropius ist nicht belegt.

Die Debatte

Als DER SPIEGEL im Februar aus Anlass des ARD-Films zum ersten Mal kritisch über die Darstellung von Dörte Helm berichtet, fallen die Reaktionen leidenschaftlich aus. Philip Heise, der Enkel, meldet sich. Er und seine Mutter, Dörte Helms Tochter Cornelia Heise, bedanken sich für den Artikel. Von Leserinnenseite kommt ebenfalls nachdrückliche Zustimmung, aber auch scharfe Kritik. Als "unangemessen übersteigert" bewertet eine Zuschrift den Text: "Wir sind doch intelligente Wesen und als solche in der Lage, eine fiktive Geschichte zu hinterblicken und zu mutmaßen, welche bedeutende Rolle die Frauen am Bauhaus gespielt haben." In einer anderen Zuschrift heißt es: "Ich denke, Sie haben einen zu hohen Anspruch an das Fernsehen."

Aber welcher Anspruch an das Fernsehen ist angemessen? Welche Authentizitätserwartungen sollten wir als Zuschauerinnen haben, welche dürfen Angehörige wie die Heises haben? Wie viel Pragmatismus ist angebracht - von allen Seiten?

"Sie können bei einem historischen Drama nicht zu hundert Prozent den Fakten entsprechen, sonst gäbe es einen großen Teil von Romanen und Filmstoffen nicht", sagt Lars Kraume. Er ist Schöpfer, Co-Autor und Regisseur von "Die Neue Zeit". Zusammen mit seinem Produzenten Thomas Kufus saß er vier Jahre lang an Entwicklung und Produktion der Serie. Erst hatten sie eine fiktive Hauptfigur, dann stießen sie - dank eines Hinweises vom Bauhaus-Experten Michael Siebenbrodt - auf Dörte Helm.

"Von allen wahren Biografien eignete sich ihre am besten für unsere Geschichte", so Kraume. "Sie kam aus bürgerlichem Hause und war dennoch die rebellischste unter ihren Kommilitoninnen, wurde exmatrikuliert und doch wieder aufgenommen, hatte diese ungeklärte Beziehung zu Gropius, mit dessen Hilfe sie sich der Malklasse von Oskar Schlemmer anschließen konnte, obwohl Frauen eigentlich nur in die Weberei durften - und gab dann nach so vielen Kämpfen auf, um wieder zu ihrem patriarchalischen Vater nach Rostock zu ziehen. Wir haben uns gefragt, warum."

Für Kraume hat Helms Leben das Zeug, einen größeren Widerspruch im Selbstbild des Bauhauses offenzulegen: Warum propagierte die Schule nach außen die Gleichstellung von Frauen, setzte sie im Alltag aber nicht um?

Die Affäre

Kraume und seine Co-Autorinnen Judith Angerbauer und Lena Kiessler erzählen davon, indem sie Helm eine Affäre mit Gropius (gespielt von August Diehl) haben lassen - charismatischer Meister trifft rastloses Talent. Erst reiben sie sich aneinander, dann verlieben sie sich. Fast kommt es zur Verlobung. Unter dem Eindruck, dass sie immer im Schatten von Gropius stehen werde, entscheidet sich Helm in der Serie jedoch gegen die Heirat. Gropius stellt ihr daraufhin so lange Hürden in den Weg, bis sie enttäuscht aufgibt und ihren Freunden nicht nach Dessau folgt.

Tatsächlich gab es ein Ehrengericht, das klären sollte, ob Gropius ein Verhältnis mit seiner Studentin Helm hatte. Johannes Itten, Gropius' erbitterter Gegenspieler in der ersten Phase des Bauhaus, stand dem Gericht vor. Sein Beschluss: keine Affäre.

"Dass möglicherweise etwas zwischen den beiden war, ist die einzige Spekulation, die sich die Serie erlaubt", sagt Lars Kraume. "Sie ist unsere Antwort auf die Frage, warum es Frauen am Bauhaus so schwer hatten: Letztendlich scheiterten sie an der Eitelkeit der Männer, die an Gleichberechtigung nicht interessiert waren."

Anna Maria Mühe als Dörte Helm und August Diehl als Walter Gropius

Anna Maria Mühe als Dörte Helm und August Diehl als Walter Gropius

Foto: Julia Terjung/ ZDF

"Der Heiratsantrag auf Knien, die Reise von Gropius nach Rostock zu meinen Großeltern, um um Dörtes Hand anzuhalten - das hat alles nicht stattgefunden", sagt Cornelia Heise. Die 80-Jährige hat ihre leibliche Mutter kaum gekannt. Als Dörte Helm verstarb, war Heise knapp drei Jahre alt. Der Vater heiratete kurze Zeit später eine Bekannte der Familie, fiel dann 1944 im Krieg. So wuchs Heise bei ihrer Stiefmutter, ihrer, wie sie sagt, "zweiten Mutter" auf. Diese hatte von ihrem Mann kistenweise Bilder und Zeichnungen von Dörte Helm geerbt und sie bis zu ihrem Tod sorgsam verwahrt. Anfragen von Archiven, Helms Werk zu übernehmen, lehnten die Heises stets ab. Sie möchten, dass die Bilder ein möglichst breites Publikum finden.

Vom aktuellen Interesse an der Mutter beziehungsweise Großmutter ist die Familie deshalb erfreut - aber auch irritiert. Dass Dörte Helm eine Rolle in dem ARD-Film spielen werde, erfuhren die Heises aus den Medien. Vorab hatte sich niemand vom Sender oder von der Produktionsfirma gemeldet. "Totaler Liebesschund", ist ihr Urteil über den Film.

Die Serie

Die Serie sehen sie deutlich positiver. Bereits im Sommer 2018 kontaktierte Zero One, die Produktionsfirma von Thomas Kufus, Cornelia Heise, lud sie zum Setbesuch ein und schickte ihr das Drehbuch. Dass die vermeintliche Affäre von Helm mit Gropius so viel Raum einnimmt, störte die Heises schon damals. "Aber von dem Anspruch, Einfluss auf die Serie nehmen zu können, haben wir uns sehr früh verabschiedet", so Philip Heise.

Mit dem Endprodukt haben die Heises ihren Frieden gemacht, sind der Einladung von Zero One zur Deutschlandpremiere auf dem Filmfest München gefolgt und haben alle sechs Teile erst kürzlich noch einmal bei der Berlinpremiere geschaut. "Für ein Unterhaltungsformat haben sie etwas Hervorragendes daraus gemacht", sagt Cornelia Heise.

Momente von Irritation bleiben trotzdem. Als feststeht, dass die blonde Anna Maria Mühe Dörte Helm spielen wird und sich für die Rolle weder die Haare färben noch eine Perücke tragen wird, fragt jemand aus der Ausstattung bei den Heises an, ob man die Selbstporträts von Helm übermalen könnte, damit sie auf denen auch blond sei. Die Heises lehnen ab.

In der Serie sind nun mehrere Szenen enthalten, in denen ein alter Walter Gropius sehnsuchtsvoll auf Bilder einer Brünetten guckt. Dass es sich dabei um Originalbilder von Helm handelt, erschließt sich in diesem Zusammenhang kaum, dafür hat Darstellerin Mühe zu wenig Ähnlichkeit mit ihr.

Selbstporträt von Dörte Helm, Anna Maria Mühe in der Serienrolle

Selbstporträt von Dörte Helm, Anna Maria Mühe in der Serienrolle

Foto: Mühe: Julia Terjung; Helm: Privatarchiv Familie Heise

"Kein Zuschauer wird sich fragen: Warum ist Dörte Helm denn blond?", ist sich Produzent Kufus sicher. "Es ist ja nicht so, dass sie ein Star des Bauhaus ist und über unsere Serie hinaus eine große Bekanntheit erreicht hat." Auch Kraume besteht auf einem Unterschied, was die Darstellung von bekannten und unbekannten Personen der Zeitgeschichte betrifft. "Wenn ich einen Film über Dalí drehe und der darin einen Hitlerbart trägt, kann ich verstehen, wenn Journalisten fragen, was mit dem Bart passiert sei. Aber was bringt dem Zuschauer in unserem Fall eine unattraktive Perücke, die ständig ablenkt?"

Tatsächlich sind alle bekannteren Personen aus dem Umfeld des Bauhauses - von Johannes Itten bis Anni Albers - in der Serie sehr akkurat besetzt und ausgestattet worden. Nur eben nicht die Hauptfigur. Sie dürfte von der Aufmerksamkeit, die die Serie auf sie lenkt, trotzdem am meisten profitieren. "Ohne die Serie hätten die Medien gar keinen Anlass, über Dörte Helm zu schreiben", sagt Kraume. Tatsächlich hatte der SPIEGEL bis zu dem Artikel vom Februar noch nie über Helm berichtet.

"Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass es eigentlich genial ist, dass sie sie als blond zeigen", sagt Philip Heise. "So wird klar, dass es sich bei der Serie um Fiktion handelt." Im Vorfeld der Fernsehpremiere hat er unter doerte-helm.de  eine Homepage mit einem ausführlichen Lebenslauf und etlichen Werken seiner Großmutter aufgesetzt. "Wer nach Sichtung der Serie mehr über Dörte Helm wissen will, wird hier fündig."

Die Zuschauer

Über solche Authentifizierungsprozesse, also den Abgleich zwischen Fiktion und historischen Fakten bei der Rezeption von zeitgeschichtlichem TV, hat der Historiker Björn Bergold geforscht. Anhand der ARD-Verfilmung von "Der Turm" hat er untersucht, wie insbesondere Jugendliche die Authentizität von TV-Geschichte wahrnehmen und zuschreiben. Im Oktober wird seine Dissertationsschrift zu dem Thema erscheinen.

"Wie man wohl erwartet, sind sich manche der Ambiguität von fiktionalen Fernsehdarstellungen bewusst und vermuten, dass nicht alles Gezeigte der Wahrheit entspricht", so Bergold. "Genauso gibt es aber Rezipienten, die nicht nur die Aspekte einer Darstellung als historisch akkurat akzeptieren, die plausibel sind, sondern ausnahmslos alles an der Darstellung." Eine dritte Gruppe würde wiederum den zeithistorischen Kontext kaum wahrnehmen. "Sie fokussieren sich auf die unterhaltenden Elemente, zum Beispiel auf die Dreiecksbeziehungen, die bei Event-TV lange Zeit dominierten, und sehen die Filme als eine Art von Soap Opera."

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Björn Bergold

Wie Stories zu History werden: Zur Authentizität von Zeitgeschichte im Spielfilm (Histoire, Bd. 161)

Verlag: transcript Verlag
Seitenzahl: 452
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26.04.2024 06.00 Uhr

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Was wie bei den Zuschauerinnen und Zuschauern ankommt, lässt sich demnach kaum steuern. "Von der Darstellung kann nicht auf die Rezeption geschlossen werden", so Bergold. Ergänzende dokumentarische Formate, sei es in Form von Filmen oder Web-Dossiers, hält er grundsätzlich geeignet, um Fiktion besser einordnen zu können. Im Fall von "Der Turm" kam er jedoch zu dem Ergebnis, dass zusätzliche TV-Dokus nicht die Fiktion dekonstruierten, sondern im Gegenteil bei vielen Zuschauern verstärkend wirkten: Der Spielfilm galt durch den zusätzlichen Aufwand, den die ARD mit den Dokus betrieben hatte, als noch glaubwürdiger.

Lars Kraume ist sich sicher, dass von "Die Neue Zeit" eine eindeutige Botschaft ausgeht und die Liebesgeschichte nichts überlagert: "Am Ende wird der Zuschauer ein sehr genaues Bild davon haben, in welcher komplexen historischen Situation das Bauhaus gegründet wurde und was seine Ziele waren. Durch die Serie werden viele Zuschauer Neues erfahren, sich aber nicht belehrt fühlen."

Björn Bergold ist nach der Promotion in den Schuldienst gewechselt und unterrichtet mittlerweile Geschichte an einem Thüringer Gymnasium. Er zeigt seinen Schülerinnen und Schülern auch Spielfilme mit zeithistorischen Inhalten, aber nicht zur Vermittlung von Inhalten, sondern zur Stärkung von Medienkompetenz: "Sie sollen die Konstrukte erkennen, auf denen die Fiktionen basieren, und so zu eigenständiger Kritik ermächtigt werden."


"Die Neue Zeit", am 5.9. und 12.9. jeweils um 20.15 Uhr bei Arte sowie vollständig bereits in der Arte-Mediathek; ab 15.9. um 22.15 Uhr im ZDF.